Geheimnisvolle Tierwelten

Mecklenburg-Vorpommern hat eine üppig ausgestattete Tier- und Pflanzenwelt. Zahlreiche seltene und vom Aussterben bedrohte Tierarten leben hier. Einige können Einheimische und Besucher beobachten, aber viele verstecken sich und lassen die Menschen nicht so ohne weiteres in ihre Welt eindringen. 

Jürgen Reich hat mit hohem Zeitaufwand in abgelegenen Gebieten einige Arten aufgespürt. Dabei entstanden faszinierende Fotos u.a. von Kormoranen, Seeadlern, Fischadlern, Kranichen und Schwarzstörchen, Siebenschläfern , Fischottern und Bibern. Und: Immer wieder versteht es der Autor, dabei unaufdringlich Biologisches sowie den aktuellsten Wissensstand zu den einzelnen Tieren zu vermitteln.

 ISBN-10 :  3356010913

Leseprobe

Der Fischadler

Die Tage der neuen Woche sind im Kalender blau unterlegt. Beim Umblättern fällt es mir auf. Ja, natürlich, die Sommerferien beginnen, und gleich sticht der erste Termin ins Auge: Ferienkinder haben sich schon vor langer Zeit angesagt. Die beiden kommen aus der Stadt, sind im besten Abenteueralter und bringen immer ganz schön Bewegung in unsere Abgeschiedenheit. Sie stürmen gleich ins Haus und sind kaum zu bremsen. Ihre neueste Entdeckung ist Survival, die Kunst, in der Wildnis zu überleben.

An ihrer Schule hatte DER deutsche Survivalguru einen Vortrag gehalten, und wie sollte es auch anders sein, das Feuer war entfacht. Sie haben dicke Bücher zu dem Thema gelesen, ja mir scheint, fast auswendig gelernt. Dann kommt es ganz massiv: Sie brauchen kaum Schlaf, haben nachts im Wald überhaupt keine Angst, wollen sich nur aus der Wildnis ernähren, Frieren ist ihnen unbekannt, Feuer machen sie ohne Streichhölzer … Es sprudelt nur so aus ihnen heraus. Na, da kommt ja einiges auf mich zu, geht es mir durch den Kopf. Mal sehen, wo die Grenzen ganz real liegen. Langweilige Ferien werden das bestimmt nicht!

Ich will ohnehin zur Müritz und schauen, ob die jungen Fischadler schon ausgeflogen sind. Da können die Beiden ihre Vorhaben gleich in die Tat umsetzen. Ganz in der Nähe des Sees verläuft eine Hochspannungsleitung. Sie verunstaltet zwar die schöne hüglige Landschaft am Südufer, aber auf einem der Masten hat ein Fischadlerpaar schon seit Jahrzehnten seinen Horst errichtet. Ursprünglich waren die flachen Kronen der Kiefern als Brutplatz sehr beliebt, aber diese sind nicht mardersicher.

In den sechziger Jahren begannen einzelne Paare mit dem Nestbau auf den Winkeleisen der Starkstrommasten. Wie viele Greifvogelarten haben auch Fischadler eine Brutplatzprägung, so dass Jungvögel, die auf einem Mast aufgewachsen sind, immer wieder die Konstruktion für die Anlage ihres eigenen Nestes nutzen. Fast achtzig Prozent der Fischadler in Mecklenburg-Vorpommern errichten es auf Masten: Der Horststandort liegt sehr hoch, der Anflug ist frei, und kein Nesträuber schadet den Adlern.

Mir war es unheimlich, als ich vor drei Wochen mit einem Beringer auf den Mast klettern durfte. So dicht zwischen den Adern der 110 KV-Leitung in dreißig Meter Höhe steigen … , nur nicht nach unten schauen und nur die Bewegungen machen, die der Experte über mir tat! Gründlich belehrt, ausgestattet mit Sicherungsseil und Helm habe ich bestimmt keine so professionelle Figur abgegeben wie mein Begleiter, der schon seit zwanzig Jahren Fischadler beringt. So ganz nebenbei wollte ich dort oben noch fotografieren. Die ruhigen Bewegungen und das entspannte Gesicht meines Gegenübers halfen mir sehr, die ungewohnte Situation zu meistern. Sogar ein freihändiger Filmwechsel gelang während des Beringens der drei Jungadler! Sie lagen in Schockstarre platt und mit aufgerissenem Schnabel tief in die Nestmulde gedrückt. Das Ringanlegen war unspektakulär: Ein Bein bekam den Metallring mit einer Seriennummer und der Anschrift der Vogelwarte, und nach kurzem Griff erhielt das andere den Farbring mit einer von weitem ablesbaren Buchstaben-Zahlenkombination.

Den Jungadler mit dem Kennring B 170 fasste ich richtig mit meinen Händen, er war völlig starr und bewegte kein Glied. Dafür zitterten mir die Knie beim Abstieg, denn um einen sicheren Tritt zu finden, musste ich auf die Füße achten und sah ständig die Bodenlosigkeit darunter. Ich konnte überhaupt nicht schätzen, wie weit es bis zur Erde war und wie dicht die gefährlichen Leitungen neben meinem Weg lagen. Doch irgendwann standen der Ornithologe und ich uns wieder auf der Wiese gegenüber. Der Beringer schaute, als hätte er eben nur mal einen Brief eingesteckt, und ich, na ja … , die Übung fehlte eben.

Dieses einprägsame Erlebnis geht mir durch den Kopf, während ich das Spektiv auf Mast und Horst einrichte. Deutlich erkenne ich die Eisenträger und darüber die Knüppelburg. Das Nest ist - wie erwartet - schon leer. Hoffentlich verweilt die Familie noch am See! Aber dort klappt es auch nicht gleich mit einer Beobachtung, und so gehen wir erst einmal baden. Das allein ist schon ein Erlebnis für die fast nur Schwimmhallen gewohnten Jungs! Wir tollen herum, ganz nebenbei mustere ich den Himmel über dem See bis hinunter an die Horizontkante. Die Fischadler müssten eigentlich noch im Brutrevier sein.

Nach dem Ausfliegen verlassen die Jungerwachsenen den eigenen Horstbereich nicht. Erst einmal üben sie das Landen auf Ästen, das An- und Abfliegen vom Nest, und zum ersten Mal in ihrem Leben baden sie. Das Fische fangen ist zwar genetisch festgelegt, aber so richtig wissen sie noch nicht, dass die größten Erfolgsausichten nur bei ruhiger Wasseroberfläche bestehen und dass man nicht in jeden beliebigen dunklen Rücken unter der Wasseroberfläche seinen Krallen schlägt. Sie müssen lernen, dass ein Fischadler seine Beute nicht einfach so, wie diese gerade zufällig in den Fängen hängt, transportiert. Sie wird im Flug, Kopf voran, ausgerichtet, um den Luftwiderstand möglichst gering zu halten. Nach der Mahlzeit wäscht ein Fischadler seine Fänge im See durch flaches Hinwegstreichen. Auch das muss ein Jungvogel richtig lernen.

Aber noch fliegen sie hungrig, ständig rufend den Altvögeln hinterher, bis sie müde oder satt sind. Erst allmählich beherrschen sie das Fischadlerleben perfekt. Sie werden hier schon wieder auftauchen denke ich, denn die Nacht verbringt die Familie noch in Horstnähe. In wenigen Wochen- Mitte August - beginnt der Abflug ins afrikanische Winterquartier.