Jürgen Reich hat hart und geduldig gearbeitet: Intensive Beobachtungen aus einem Baumhaus, das er sich 25 Metern Höhe ungefähr 10 Meter entfernt zum Adlerhorst selbst errichtet hat und beharrliches Fotografieren über Jahr hinweg bringen uns Bilderlebnisse von einzigartigem Reiz nahe.
Nicht das Tier als Objekt benutzend, sondern immer eine Beziehung aufbauend, vermittelt er Einzigartiges und neue Erkenntnisse, die den bisherigen Wissensstand über diesen faszinierenden Greifvogel ergänzen und bereichern.
Die Brachvogeljagd
Mein Winterversteck hinter den Dünen kennt viele Stunden, in denen ich auf Seeadler warte. Hier, im gesperrten und ungestörten Gebiet, wo der Bodden beginnt, ragt ein langer schmaler Sandhaken weit ins Flachwasser. Es ist ein günstiger Platz, der beliebte Aufenthaltsort vieler Seevögel. Auch Jungadler können den ganzen Tag hier sitzen, spielerisch nach Strandgut greifen und andere Vögel beobachten. Besonders die Silbermöwen verfolgen sie mit wachsamen Augen auf ihren Nahrungsflügen. Haben diese einen angespülten Fisch oder etwas anderes Fressbares gefunden, fliegen sie in ganz charakteristischer Art und Weise zu ihrer Entdeckung. Sofort starten aus den Dünen die wartenden Adler und jagen den Möwen die Beute ab.
Oftmals sind stundenlang keine Adler in Fotoentfernung auszumachen. Ich nutze die Gelegenheit, um anderen Vogelarten zuzuschauen, denn die Sandbank im Windschatten der Düne ist nicht nur für diese Vögel ein beliebter Rastplatz. Schwäne und Kormorane nutzen sie zur Gefiederpflege, Enten ruhen auf dem flachen Sand und zur Zugzeit beobachte ich oft verschiedene Strandläuferarten. Sie legen hier im Frühjahr und Herbst gerne eine Pause ein und sammeln Fettreserven für ihren langen Flug.
Es ist Ende Januar und die Zugvögel haben ihr Winterquartier viele Kilometer weiter westlich oder südwestlich – entlang der Nordsee bis nach Afrika - aufgesucht. Der Winter hielt bis jetzt noch keinen Einzug, und so wundert es mich nicht, dass vor meinem Versteck neun Große Brachvögel stehen und mir das Warten leicht machen.
Im knöcheltiefen Wasser bohren sie den langen Schnabel oft bis zum Kopf in den Grund, ziehen aber nur gelegentlich einen Schlickwurm heraus. Die Wassertemperatur liegt kurz über dem Gefrierpunkt und sie baden sogar bei diesen niedrigen Graden, die Kälte macht ihnen offensichtlich nichts aus. Die Energieverteilung muss anders erfolgen als beim Menschen, sonst würden sie unterkühlen wie ich in meinem Versteck.
Zwei Wochen später sinkt die Temperatur plötzlich rapide ab. Besonders in den Nächten ist es bitterkalt. Jetzt müssten die Adler eigentlich Hunger haben, aber sie kommen trotz ausgelegter Beute nicht vor das Versteck. Die windstillen Buchten und Uferränder im Bodden vereisen. Eine Spiegeleisdecke bildet sich, die aber noch keinen Menschen trägt. Durch den hohen Salzgehalt bleibt das Eis pappig. Weit draußen schiebt der Wind treibende Eisfelder knirschend aufeinander. Zusätzlich bringen die Schiffe in der Fahrrinne Bewegung in das Hin und Her. Auf den offenen Flächen schwimmen tausende Enten, viele Säger, Bleßrallen und Schwäne. Dort ist der Adlertisch momentan reichlich gedeckt und so lohnt ein Ansitz momentan nicht.
Wie schwarze Klumpen erscheinen die Seeadler, die abwartend am Rand des Eisfeldes vor den Ansammlungen der Wasservögel stehen. Kranke und geschwächte Vögel werden ihnen zur leichten Beute. Ich entdecke mit dem Fernglas Erhebungen in der Ferne: tote Höckerschwäne. In vergangenen Wintern konnte ich auf dickem Eis zu solchen Winteropfern gehen und diese untersuchen. Die überwiegend jungen Schwäne hatten auf dem Eis übernachtet. Füchse überwältigten die schlafenden Vögel und fraßen sie nur an, um dann die wertvollen Innereien zu verschlingen. Der Rest blieb liegen. Die Adler könnten von diesen Schwänen leben. Ihr Nahrungsangebot ist aber jetzt so reichlich, dass die steif gefrorenen Kadaver unbeachtet bleiben.
Ich war schon lange nicht mehr am Strand. In der Nacht hat es sogar ein wenig geschneit und am nächsten Morgen hält mich nichts mehr. Die Winterlandschaft am Meer ist so selten und bei dem silbrig hellen Februarlicht ein Genuss. Sturm gab es genug, so dass die Wellen gelegentlich Bernstein an den Strand werfen. Ich suche zwischen Seegras, Muschelschalen und Eisstücken nach dem Gold des Meeres.
Alles ist vereist. Auf dem gefrorenen Strand liegt nur eine ganz dünne Schneedecke. Beim Aufschauen von der Bernsteinsuche entdecke ich im Schutz einer Strandhaferbülte dunkle Punkte in der Ferne - die Brachvögel. Längst haben sie mich bemerkt, laufen schleppend aus der Deckung an den Strand und fliegen fort. Was ist das für ein Flug? Matt und flach rudern sie den Spülsaum entlang und verschwinden gar nicht weit entfernt hinter den Dünenkämmen.