Deutsche Buchenwälder

Ohne menschlichen Einfluss wären heute noch weite Teile Europas nahezu komplett mit Fagus sylvatica, der Rotbuche, bedeckt. Auch in Deutschland sind die wilden Urwälder im Laufe der Geschichte durch die Zivilisation derart überformt und vernichtet worden, dass die UNESCO am 25. Juni 2011 die wertvollsten Relikte großflächiger, weitgehend unversehrter Buchenwälder zum Weltnaturerbe erklärt hat. Mit diesem Titel stehen die Gebiete nun unter besonderem Schutz und außerdem auf einer Stufe mit Naturwundern wie dem Machu Picchu, den Everglades oder dem Grand Canyon.

Zu den "Alten Buchenwäldern Deutschlands" zählen neben den naturbelassenen Waldgebieten der Nationalparke Hainich (Thüringen), Jasmund und Müritz (Mecklenburg-Vorpommern) und Kellerwald-Edersee (Hessen) auch die des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin (Brandenburg). Jedes dieser fünf Gebiete weist spezifische und einzigartige Ausprägungen und standörtliche Besonderheiten auf. Mit stimmungsvollen, ausdrucksstarken Fotos sowie bildhaften, einfühlsamen Texten führen uns der Naturfotograf Jürgen Reich und die Textautorin Susanne Kreutzer in die märchenhaft anmutende Welt der "Urwälder von morgen", einer Welt, die jeder selbst entdecken und erleben kann.

 ISBN-10 :  3939172979

Leseprobe

Am Ende des Winters können sich die letzten Schneefetzen nur noch im Schatten beharrlich weigern, zu schmelzen. Die Tage werden wieder länger und die ersten richtig warmen Sonnenstrahlen lassen die Pflanzen aus ihrem Winterschlaf erwachen. Erst zaghaft, dann mit preschender Geschwindigkeit. Eichhörnchen jagen durchs Geäst, Vögel schmettern ihre Frühlingslieder, es zwitschert aus sämtlichen Ecken, jeder hat zu tun. Die Erde riecht nach Regen und die sonst ausgetrockneten Bachtälchen des Hainichs führen reichlich Wasser. In unzähligen Knospen verstecken sich noch die Blätter der Bäume. Der dunkle Waldboden kann sich durch das fehlende Blätterdach schnell bis zu 30° C erwärmen und damit den Weg für eines der wohl unvergesslichsten Naturerlebnisse in Deutschland ebnen: Die Frühblüher, die den gesamten Waldboden mit ihren weißen, gelben, violetten und blauen Farbtupfern bedecken. Es blühen nicht alle Arten gleichzeitig, sondern jedes Jahr wiederholt sich eine genetisch festgelegte Abfolge. Bereits Ende Februar strecken sich Hunderte Märzenbecher und Leberblümchen der Sonne entgegen, danach verzaubern Scharbockskraut, Buschwindröschen, Gelbes Windröschen und Hohler Lerchensporn. Seidelbast und Wald-Schlüsselblumen wiegen sich im Wind. Im Mai, wenn bereits frisches Grün in allen Schattierungen den tristen Winter restlos vergessen lässt, kündigt sich ein weiterer Frühblüher zunächst durch seinen Geruch an. Der Bärlauch entfaltet seine kräftig duftenden Blätter und Blüten. Wie der lateinische Gattungsname Allium verrät, ist er mit Schnittlauch, Zwiebel und Knoblauch verwandt.

Frühblüher sind sozusagen die Hundertmeterläufer unter den Pflanzen, denn sie müssen sich beeilen, da im Mai, spätestens im Juni die Blätter der Bäume weniger als 10 Prozent des Sonnenlichts den Erdboden erreichen lassen. Austreiben, Blühen, Fruchten und Reserven für das nächste Frühjahr speichern müssen in nur wenigen Wochen abgeschlossen sein. Erstaunlicherweise machen die letzten Kältewellen des Winters den zarten Pflänzchen nichts aus. Mutter Natur hat sie mit einer Art „Frostschutzmittel“ ausgestattet. Bei Kälte wandeln sie Stärke in Zucker um, der den Gefrierpunkt im Wasser der Pflanzenzellen so weit heruntersetzt, dass sich keine Eiskristalle bilden können. Diese würden die Zellen platzen lassen. 

Nicht nur für uns ist der Anblick der bunten Frühlingsmatten erfreulich, sie sind auch eine der wenigen Nektartankstellen, die zu dieser Jahreszeit angezapft werden können. Hummeln fliegen mit lautem Brummen und einer durchschnittlichen Flügelschlagfrequenz von etwa 200-mal pro Sekunde durch den lichtdurchfluteten Wald.