Anekdotisches verknüpft der Autor mit Biologischem und immer wieder wird deutlich: Jürgen Reich liebt diese Tiere, bringt den Menschen seine ganz individuelle Sicht der wunderbaren Naturerlebnisse nahe und vermittelt damit, warum die KRANICHSAISON alljährlich Tausende von Besuchern in ihren Bann zeiht.
ES WIRD HERBST
Ja, hier gefällt es mir. Drei Meter hoch, vier Quadratmeter Platz, eine Sitzbank und Ausblick nach allen Seiten - eine Kanzel. Der Jagdpächter hat mir die Benutzung erlaubt und nun können die Kraniche erscheinen. Sie kommen bestimmt. Das tun sie schon tagelang. Der Schlafplatz ist nicht weit und auf dem Feld vor der Kanzel stand Mais. Auf diesem Stoppelacker liegt noch viel Fressbares. In Schussentfernung um meinen Ansitz herum wurde sogar noch Mais ausgestreut, für die Wildschweine die hier nachts Futter suchen. Ich habe noch ein paar Handvoll dazugestreut, in der Hoffnung, dass die Kraniche dicht heran kommen.
Nun kann der Morgen beginnen. Vom Schlafplatz erschallt das Trompeten immer lauter und noch lauter rufen die Blessgänse, die auch auf dem Bodden übernachtet haben. Bald sind die ersten von ihnen in der Luft, fliegen auf den Acker und tauchen in die dunkle Fläche ein. Sie müssen noch besser sehen können als die Kraniche. Die kommen etwas später, landen aber leider sehr weit weg. Dort, wo die erste Gruppe gelandet ist, fliegen auch alle anderen hin, denn wo schon Artgenossen sind, kann es nicht gefährlich sein. So schaue ich dem grandiosen Schauspiel zu, wie bei herrlichstem Oktobermorgenlicht die Vogelmassen hier einfallen.
Aber was ist das? Schnauben, Brummen und Tritte. Kommen jetzt noch Wildschweine? Ein Blick nach hinten, o nein, viel größer, zahlreicher und bunter: Kühe. Erst einmal benutzen sie die Kanzel als Scheuerpfahl und alles schwankt. Ich muss das Stativ mit der teuren Fototechnik darauf festhalten. Eine Kuh nach der anderen kommt zur Kanzel. Zum Glück juckt nicht jeder das Fell - es sind wohl über fünfzig! Nun geht es in Richtung Vogelschwärme. Viele Kraniche, die in Skandinavien oder in der nördlichen Taiga brüten, kennen zwar Wölfe, Elche und Bären, aber keine Kühe. Die Vögel weichen trotzdem nur kurz aus. Kühe und Wildvögel vertragen sich gut und so langsam kommen die Kraniche auch näher. Doch was ist das? Ein Geräusch, das anfänglich zum Hintergrund gehörte, wird immer deutlicher, dann richtig zudringlich. Ein uralter Traktor kommt laut und qualmend heran, fährt an der Kanzel vorbei und auf die Kühe und Kraniche zu. Außer den Kühen geht nun alles hoch und fliegt aber erstaunlicherweise nicht weit weg. Sie kennen den Traktor wohl schon. Doch was ist das? Der Traktorist steigt aus, hält einen Arm hoch, Schüsse fallen. Alle Kraniche und Gänse fliegen auf.
Ich habe mich genauso erschrocken und bin verärgert. Hier entsteht doch nun wirklich kein landwirtschaftlicher Schaden! Der Fahrer holt nun die Rinder zusammen und treibt sie mit dem Traktor vom Feld. Außer ein paar Mäusen bin ich jetzt wohl das einzige Lebewesen auf dem Acker. Was tun? Eine ganze Weile sitze ich da und grübele. Doch da, schon wieder etwas von hinten, ein Rauschen über mir und schon steht eine Kranichfamilie mit zwei Jungen vor dem Objektiv. Ich kann es kaum fassen. Noch sind die Hälse lang gestreckt und alle sichern. Aber schon bald beginnen die arglosen Jungvögel den ausgelegten Mais zu fressen. Jetzt erst wage ich, das Objektiv optimal einzurichten um endlich die ersten Fotos zu machen. Und da geht es schon weiter. Ein Flug nach dem anderen landet jetzt hier und ich belichte einen Film nach dem anderen. Das ist ein Fototag!