Leseprobe: Auszug aus der Geschichte

Rentier

... Was für ein erhebendes Gefühl, wenn die Tür zufällt und man als Fremder mitten unter den Rentieren steht. Ihr eigenartiges Knacken in den Fußgelenken, das bei jedem Schritt zu hören ist, das weiche Fell, der fremdartige Geruch und die großen dunklen Augen sind ganz nah. Zutraulich, vielleicht auch etwas neugierig beschnüffeln sie den Neuankömmling aus allernächster Nähe. Der Fotograf traut sich ganz verunsichert keinen Schritt weiter. Fasziniert steht er da. Den Rentieren reicht das kurze Bekanntmachen aus.

Bald darauf laufen sie dem Pfleger hinterher, der in seiner Karre eine Kiste Futter zum Stall bringt. Heu können die Rentiere immer aus der Raufe fressen, aber das saftige Futter bekommen sie nur einmal täglich.


Ihr Besuch im Gehege ist plötzlich nicht mehr wichtig. Als der Pfleger nach dem Füttern zum Saubermachen  weiter ins Gehege geht, deutet er vielsagend in den Stall: „Aber ganz vorsichtig!“ Die Tiere folgen ihm zwischen den Eichen hindurch auf die weitläufige Anlage.       

Was mag der Pfleger nur gemeint haben? Erst zögernd, dann neugieriger werdend, schaut der Fotograf ganz langsam um die Ecke in das Dämmerlicht des Rentierhauses. Dort steht ein Weibchen ganz alleine im Halbdunkel. Von ihrem Kopf rinnt ein Blutstropfen herab, der von einer daumennagelgroßen hellroten Stelle der Stirn läuft. Zuerst bekommt der Fotograf einen Schreck, doch dann wird ihm klar – das Rentier hat soeben seine Geweihstange abgeworfen, was ja etwas völlig normales ist. Sie muss hier noch liegen. Mit den Augen tastet er im matten Licht des schwarzbraun gestrichenen Holzhauses umher, entdeckt aber etwas wesentlich Wichtigeres, viel Schöneres.

Versteckt hinter dem Weibchen schläft ein wenige Tage altes Renkalb. Mit seinem dunklen Fell, halbverborgen im Stroh liegend, fällt es gar nicht auf. Doch halt, das Weibchen hat den fixierenden Blick bemerkt. Schon legt die Mutter ihre Ohren an, senkt den Kopf wie alle kampfbereiten Geweihträger, obwohl ihr Haupt seit kurzem ganz kahl ist. Dichter darf der Unbekannte nicht heran! ...

ISBN-10: 3356012819

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